1. August Rede, QV Wollishofen

Sehr verehrte Damen und Herren, geschätzte Wollishoferinnen und Wollishofer, liebe Gäste

Herzlichen Dank.

Ich weiss, dass alle 1-August-Rednerinnen und Redner so anfangen, aber ich meine es wirklich ernst: Es ist für mich eine grosse Freude und Ehre diese Rede halten zu dürfen.

Ich danke deshalb dem Quartierverein Wollishofen und seinem Präsidenten Martin Bürki und für die Einladung und das Vertrauen und allen, die mitgeholfen haben, diese Feier zu organisieren.

Es ist nicht nur eine Ehre, sondern auch eine Premiere. Das ist meine erste 1.-August-Rede. Und weil ich nicht recht wusste, was ich an einem solchen Anlass zu sagen habe, machte ich, was man heute in einem solchen Fall tut: Ich habe «1. August Rede» gegoogelt.

Es gibt bestimmt ganz ausgezeichnete 1.-August-Reden, aber aus mir unerklärlichen Gründen scheinen die nicht die vorderen Plätze der Suchresultate zu belegen. Das Gefundene erinnerte mich an die Geschichte von Karl Valentin, dem bekannten bayrischen Komiker, der, als er einmal den bayerischen Landtag besuchte und beim Beobachten der Politiker gefragt wurde, was er von dem Treiben halte, zur Antwort gab: «Alles wurde schon gesagt, nur noch nicht von Jedem.»

Das gilt auch für 1. August Reden. Seit gut 120 Jahren, der 1. August wurde erst 1889 als Nationalfeiertag festgelegt, halten Frauen und Männer an diesem Tag landauf landab Reden. Wenn man davon ausgeht, dass jedes Jahr in jeder Schweizer Gemeinde mindestens eine Rede gehalten wird, dann macht das bis heute etwa 300’000 1.-August-Reden. Wer also den Anspruch hat, etwas grundlegend Neues zu hören oder zu sagen, muss fast zwangsläufig scheitern. Aber zumindest zum Anfang kann ich Ihnen etwas zum 1. August erzählen, dass Sie vermutlich nicht gewusst haben: An einem 1. August hatte nicht nur die Schweiz Geburtstag, sondern auch meine Grossmutter, die Mutter meines Vaters. Und obwohl sie sonst eine bescheidene und hilfsbereite Frau war, behauptete sie jeden 1. August im Scherz, dass die Feierlichkeiten, Feuerwerke und Böllerschüsse auch ein wenig ihr gelten.

Sie hiess Lydia Schürmann und kam aus Egerkingen im Kanton Solothurn. In Egerkingen hat man «puuret» und ich selbst habe als Kind noch ab und zu beim Heuen geholfen. Lydia war das Zweitälteste von acht Kindern. Als ihre Mutter starb kam sie im Alter von 14 Jahren anfangs der 30er Jahre nach Zürich, um als Dienstmädchen zu arbeiten. Hier lernte sie später ihren Mann, Edmund Dubno kennen. 1940 haben die beiden geheiratet. Das war eine mutige Tat von ihr, denn Edmund war ein Jude mit osteuropäischen Wurzeln. Er war zwar ebenfalls Schweizer, diente in der Armee und konnte jassen wie Göpf Egg, aber das hätte wohl alles keine Rolle gespielt, hätte der 2. Weltkrieg anders geendet und niemand konnte damals wissen, wie er enden würde.

Ich will auch meine Grosseltern mütterlicherseits erwähnen: Der Vater meiner Mutter heisst Otto Loeffler. Seine Vorfahren kamen zum Teil aus Deutschland. Er verbrachte seine Kindheit in äusserst bescheidenen, reformiert-religiösen Verhältnissen in Dietlikon. Mich beeindruckt immer die Geschichte, wie er sich als Kind zum Geburtstag jeweils ein Mödeli Butter und ein Weissbrot wünschte. Er war ein einfacher Büezer, er liebt die Natur und kraxelt heute noch im Alter 90 Jahren die Berge hinauf. Seine Frau, meine Grossmutter hiess ursprünglich Yolana Struharik. Sie kam aus der Slowakei, ist aber in Frankreich aufgewachsen. Was meinem Grossvater die Natur war, war ihr die Kultur. Dieses Interesse, der slawische Hintergrund kombiniert mit dem französischen Accent verlieh ihr etwas aristokratisches, das so gar nicht zur Bescheidenheit meines Grossvaters passte.

Ich erwähne meine Familiengeschichte nicht, weil ich sie für etwas Aussergewöhnliches halte. Ganz im Gegenteil. Ich erzähle ihnen von meiner Familie, weil ich sie für etwas Durchschnittliches halte. Wahrscheinlich werden viele von Ihnen in Ihren Familien ähnliche Lebensläufe finden. Und ich erzähle Ihnen von meiner Familie weil ich sie für typisch schweizerisch halte. Und typisch für die Stadt Zürich. Wenn ich einem Ausländer erklären will, weshalb ich Zürich für eine der tollsten Städte der Welt halte, erzähle ich von der Lebensqualität, dem See, dem kleinstädtischen Charme und dem weltstädtischen Angebot und von den Fussballweltmeisterschaften. Es gibt wohl keine andere Stadt auf der Welt, in der nach jedem Spiel der Fussball-WM gefeiert wird. Ganz egal, wer gewinnt, in Zürich gibt’s ein Fest. Bis vor kurzem gab es noch eine Ausnahme: Die Deutschen. Die Deutschen feierten in der Vergangenheit nicht öffentlich. Aber das hat sich in diesem Jahr geändert und gehört zu meinen persönlichen WM-Highlights: Endlich jubeln in Zürich auch die Deutschen. Selbstverständlich tun mir alle leid, die unter dem Lärm zu leiden hatten, und ich war natürlich froh, dass für einmal nicht hier bei uns in Wollishofen am See gefeiert wird, aber mir gefällt die Vorstellung, dass alle diese unterschiedlichen Leute, die mit ihren und anderen Länder jubeln und feiern, zusammen das grosse Zurich United oder eben die Stadt Zürich bilden. So etwas findet man sonst nur in Coca-Cola-Werbespots. Dass also heute der Enkel eines katholischen Landmädchens, eines städtischen Ostjuden, einem naturverbundenen Büezers mit deutschen Wurzeln und einer kulturinteressierten Slowakin mit französischem Akzent vor Ihnen steht und die 1. August Rede hält, freut mich. Nicht nur weil ich es bin, der diese Rede hält, nicht nur weil das hierzulande möglich ist, sondern weil das hierzulande normal ist. Und normal ist das weil wir eine demokratische Willensnation sind. Nicht eine einheitliche Sprache, Kultur oder Religion hält uns zusammen, sondern unser Wille.

Damit ist mehr als nur der Zusammenhalt über den Röstigraben gemeint, die Schweizer Geschichte ist reich an Konflikten, die teilweise blutig ausgetragen worden sind. Konflikte zwischen Stadt und Land, zwischen Bürgern und Bauern, zwischen Katholiken und Reformierten, Liberalen und Konservativen, Inländern und Ausländern, Männern und Frauen, Alten und Jungen, Linken und Rechten. Aber trotz all dieser Konflikte und Veränderungen hat dieses freiheitliche Konstrukt, das vor über 700 Jahre begann, zusammengehalten – dank Föderalismus und direkter Demokratie und dem Willen der Bürgerinnen und Bürger zur Nation.

Es gibt noch immer unterschiedlichen Ansichten und Werte und Konflikte in unserem Land, und das ist gut so. Wer will schon in einem Land leben, das nur ein Ideal und eine Meinungen erlaubt? Ich auf jeden Fall nicht. In solchen Ländern gebraucht man gerne und häufig das Wort «Volk». Mir ist dieses Wort, zumindest im politischen Kontext, nie ganz geheuer. Wer vom «Volk» spricht, suggeriert eine Einheitlichkeit, die es in Tat und Wahrheit nie gab und hoffentlich auch nie geben wird. Schauen Sie einmal die Länder an, die sich Volksrepubliken nennen. Vom «Volk» spricht man in Diktaturen, in Demokratien spricht man von Bürgerinnen und Bürger und die sind nur in den seltensten Fällen einer Meinung, auch wenn es bei uns Politikerinnen und Politiker gibt, die Ihnen das weismachen wollen.

Was wir heute feiern, ist die Tatsache, dass wir trotz aller Unterschiede zusammenhalten. Ich finde es gut, wenn wir unterschiedliche Meinungen haben, uns ab und zu streiten, Standpunkte verteidigen und um Positionen ringen, so lange wir die demokratische Spielregeln einhalten und den Anstand wahren. Diese Auseinandersetzungen sind es, die uns voranbringen. Wir dürfen bei all den Dingen, die uns trennen, nur nicht vergessen, dass uns im Innern der Wille zur Nation zusammenhält. Die Schweiz ist also eine bewusst gewollte Gemeinschaft von hier ansässigen Bürgerinnen und Bürgern mit unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlichen Meinungen und Ansichten. Und mit wechselnden Mehrheiten. Deshalb gehört zur Willensnation, zum Föderalismus, zur Direkten Demokratie, ja zur Schweiz überhaupt auch immer der Schutz von Minderheiten. Der Minderheitenschutz ist Teil unserer humanitären, liberalen und demokratischen Tradition.

Meine Grossmutter hatte eben doch irgendwie recht mit ihrem Scherz. Die Böllerschüsse, Feierlichkeiten und natürlich auch die Ansprachen, besonders diese hier, sind tatsächlich auch ein wenig ihr gewidmet. Ihr und ihrem Mann, Edmund Dubno und Yolana Struharik und Otto Loeffler und ihnen allen hier und allen Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes mit allen ihren Unterschieden und ganz besonders auch allen Ausländerinnen und Ausländern, die unsere Gesellschaft und unseren Wohlstand mit ihrer Anwesenheit bereichern und deren Enkel vielleicht auch einmal eine 1. August Rede halten werden. Ich danke Ihnen und wünsche Ihnen weiterhin eine vergnügliche Feier.

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